Der Titel des 58. Webmontag „Un:Normal“ war Programm: das Orga-Team klopfte bei einem neuen Moderator an: Sven Michels stimmte zu. Er ist Rollstuhlfahrer. Und war trotz dieser plakativen Anfrage bereit in diese neue Rolle zu schlüpfen. Und weil der Abend unnormal war, gab es einige technische Probleme. Und weil Sven souverän ist, überbrückte er die entstehenden Pausen aus dem Stehgreif mit unnormalen Anekdoten aus seinem Leben. Die waren grotesk und hielten uns gleichzeitig einen Spiegel vor die Augen: Wie gehen wir mit dem „Unnormalen“ um?
Un:normal entwickeln – Barrierefreie Apps für alle
Für Johannes Wunderer ist der Begriff „normal“ dehnbar. Normal soll sein, dass alle Dinge so angeordnet sind, dass sie Alle gleich handhaben können. Dieses Prinzip wendet er auch auf die Software-Entwicklung an.
Er beschäftigt sich mit barrierefreien Apps und hat dabei die ganze Nutzervielfalt vor Augen – keinen Idealtypen. Dazu gehören können Kinder, Alte, Menschen aus anderen Kulturen, Behinderte. Aber auch Farbenblinde, Rheumakranke und Brillenträger.
Barrierefreiheit für mobile Anwendungen bedeutet, dass eine App beispielsweise folgende Merkmale hat:
- Aussagekräftige Titel und Überschriften
- Wenig Knöpfe
- Einfache Benutzerschnittstelle
- Integrierte Hilfssoftware
- Handlich
- Sinnvolle Alternativtexte
- Funktioniert auch in schwarz-weiß
- Hoher Kontrast
Es ist gar nicht schwer, eine App so zu entwickeln, dass sie nicht nur den Nutzer hilft, sondern sogar zur Inklusion beitragen kann. Theoretisch zumindest kennen also die App-Entwickler die Wünsche der Nutzer. Und die Download-Zahlen werden da sicher ihre eigene überzeugende Sprache sprechen.
Un:normal sein – Wir sind alle Cyborgs
Dann stand ein „Cyborg“ auf der Bühne – und er erklärte uns dann auch recht schnell, dass auch im Publikum lauter „Cyborgs“ sitzen. Wie das?
„Ich habe so ein bisschen Superkräfte“, kokettierte Enno Park zum Auftakt seines Vortrags „Cyborgism und Inklusion“. Er ist praktisch taub und trägt seit einigen Jahren ein Cochlea –Implantat. Das ist eine Hörprothese für Gehörlose, deren Hörnerv noch funktioniert. Ein Teil des Implantats ist unter der Schädeldecke, ein anderes außerhalb. Damit kann er wieder hören. Diese Symbiose mache ihn zum Cyborg (Cybernetic Organism), zu einem Mischwesen aus lebendigem Organismus und Maschine, sagt er.
Spätestens hier geht bei vielen das Kopfkino an. Cyborgs sind böse, machen uns Angst. Unter den Gehörlosen besteht eine heftige Diskussion darüber, ob solche Implantate ethisch vertretbar sind – Leute wie Enno polarisieren: „Ich möchte gern Ultraschall hören“. Wenn er mit seiner Behinderung und mit seinen dadurch gewonnen Möglichkeiten spielt, stößt er an Grenzen. Warum eigentlich – wo verläuft diese feine Linie, wann wir die Verlängerung unserer Fähigkeiten durch technische Hilfsmittel akzeptieren und ab wann nicht mehr?
Für viele Behinderte bedeutet der rasante Fortschritt der Technologie eine enorme Verbesserung der Lebensqualität. Der Blick auf die Paralympics genügt.
Es bleibt ein diffuses Unbehagen. Ja, es ist schön. Nein, das ist schlecht. Wir sind hin- und hergerissen. Und selbst meist mittendrin und damit selbst betroffen. Wann ist beispielsweise „Google Glass“ gut – nur dann, wenn dadurch das Leben eines Behinderten verbessert wird? Oder etwa auch dann, wenn wir die Technologie einfach nur zum Erweitern unserer Sinne oder Fertigkeiten einsetzen?
Streng genommen erweitern alle Smartphone-Besitzer ihre Fertigkeiten durch das Gerät – also sind wir alle (ein wenig) Cyborgs.
Zeit der Realität in die Augen zu schauen und sich der Diskussion zu stellen. Zeit zu hinterfragen, wer solche Geräte kontrolliert. Über Sicherheit zu reden. Über das Recht auf körperliche Integrität. Wer das Recht auf solche Technologien hat und wie zugänglich sie sein sollten. Und über deren Akzeptanz.
Un:normal kochen: Ein Menü aus der Kaffeemaschine
Selbst die Pause war nicht normal. Statt der gewohnten Live-Band enterte Jan Eggers die Bühne ausgerüstet mit einer Kaffeemaschine. Außerdem brachte er Nudeln, Lachs und Broccoli mit.
Das roch nach einem Experiment. Und das war es auch. Jan demonstrierte „unnormales Denken“ live. Was als schräge Idee daherkommt, entpuppt sich als machbar: mit einer Kaffeemaschine lässt sich dünsten, kochen, grillen. Guten Appetit.
Wer Jan kennt, wunderte sich eher, dass er seine Ankündigung „übrigens lässt sich Fisch sehr gut in einer Spülmaschine garen“ auch nicht gleich live auf der Bühne umsetzte. Die nötige Hardware fehlte.
Es blieb nicht beim Eigenversuch – ein Freiwilliger fand sich im Publikum, der mit ihm zusammen das Menü verspeiste. Hat jemand weitere leckere Kaffeemaschinen-Rezepte? Dem Probeesser aus dem Publikum ging es übrigens auch beim Ende des Webmontags gut. Jan auch.
Normal entwickeln: Responsives Webdesign
Mit einer hübschen Website allein gibt sich Jens Grochtdreis nicht zufrieden. Im Hintergrund müssen viele Hürden beiseitigt werden, damit eine Seite schön, informativ, performant und gut bedienbar ist und zwar auf allen Geräten und für viele unterschiedliche Nutzer.
Woran ein Entwickler alles denken muss – reihenweise zeigt Jens Beispiele von Fehlern, die ganz einfach zu vermeiden wären: Neue Kleider, alter Ärger: Responsives Webdesign vs. Barrierefreiheit. Nicht jedes Gerät hat eine Maus. Die meisten Endgeräte bekommen kein Update. Und worüber sich Nutzer freuen: Wenn Alternativ-Texte wirklich das Bild beschreiben und nicht zur Suchmaschinenoptimierung missbraucht werden.
Un:normal aussehen: die Ansichten eines Albinos
Und wie schaut die Welt aus, wenn du mit einer seltenen Behinderung geboren wirst? Chris Boos ist Albino und er ist heute im Vorstand eines IT-Unternehmens. Dabei startete er als Sonderschüler.
Als Kind war er natürlich ein Außenseiter. Ein Junge mit weißen Haaren und dunkler Brille hat kaum eine Chance von Gleichaltrigen akzeptiert zu werden. Die Erwachsenen um ihn herum stapelten auch tief, hielten ihre Erwartungen ans Kind sehr niedrig. Es ist ja behindert.
Ein Albino hat kein räumliches Sehen. Das beeinträchtigt enorm in vielen Lebenssituationen. Eigentlich sind Tätigkeiten wie Autofahren oder Skifahren unmöglich. Eigentlich auch das Arbeiten an einem Bildschirm. Un:eigentlich macht Chris all diese Dinge – und gründete ein IT-Unternehmen.
Wenn du etwas mit Leidenschaft willst, dann mach es. Er musste lernen, andere zu bitten, sich durchzufragen. Aufgeben gilt nicht. Besser nicht einfach die Grenzen hinnehmen, die einem von Anderen gesteckt werden. Stecke dir deine eigenen – das ist Chris‘ Botschaft: Normal… WTF?
Was so alles möglich ist, sobald wir die normalen Pfade verlassen, um die Ecke denken, extreme Gedanken weiterspinnen und Vorurteile in den Wind schlagen! Die Beiträge am 58. Webmontag waren sehr persönlich. Das verdient besonderen Respekt. Danke Johannes, Enno, Jan, Jens, Chris und Sven.
Bilder: Clemens Riemenschneider. Mehr davon auf flickr.
Videos: Sebastian Greiner. Mehr davon auf Vimeo.